Digitale Dekarbonisierung als Chance für Smart City und Smart Region

Lesedauer ca. 5 Minuten

Ein Großteil der weltweiten Emissionen von Treibhausgasen entsteht durch die Art, wie wir leben und arbeiten. Ballungsräumen und Industriegebieten fällt eine Schlüsselrolle beim Erreichen der Pariser Klimaziele zu. Daher engagiert sich der Bundesverband Smart City e. V. für innovative Ideen, durch die Smart Cities und Smart Regions zur Bekämpfung des Klimawandels beitragen können. Eine mögliche Lösung lautet: Digitale Dekarbonisierung.

Oliver D. Doleski | Thomas Kaiser | Michael Metzger | Stefan Niessen | Sebastian Thiem

Unsere Ballungsräume und industriellen Zentren tragen weltweit maßgeblich zum Klimawandel bei. Wenn wir in klimatisierten Gebäuden leben, Produkte herstellen oder mobil sind, werden sehr große Energiemengen benötigt. Hierbei gelangen unzählige Tonnen Kohlendioxid, Methan und sonstige Treibhausgase in die Atmosphäre.

Smart Cities treiben die Dekarbonisierung

Der Energiehunger menschlicher Siedlungsgebiete ist enorm. Über zwei Drittel aller Emissionen setzen Megacities, Metropolen, mittlere und kleinere Städte frei. Damit fällt unseren Städten und Regionen eine herausragende Bedeutung bei der Einhaltung der Pariser Klimaziele zu. Wollen wir den Kampf gegen den Klimawandel noch gewinnen, müssen zuallererst unsere Ballungsräume und Industrieansiedlungen den Ausstoß von Treibhausgasen wie Kohlendioxid spürbar senken.

Unsere Städte und Regionen müssen demnach eine treibende Rolle bei der Transformation des Zusammenlebens in Richtung des Idealbildes einer nachhaltig dekarbonisierten Urbanität übernehmen. Damit geschieht Dekarbonisierung nie um ihrer selbst willen. Vielmehr verfolgt sie den klimapolitisch erstrebenswerten Zielzustand einer möglichst emissionsfreien Gesellschaft.

Die entscheidende Frage ist an dieser Stelle allerdings, wie nachhaltige Ballungsräume aussehen müssten. Was macht diese Metropolen, Städte und Regionen von morgen aus? Wie müssen menschliche Siedlungsräume geschaffen sein, damit sie für ihre Bewohner lebenswert sind und das Klima gleichzeitig nicht belasten? Die Antwort lautet, dass sie intelligent sein müssen. Nur smarte Städte und Regionen sind dank des Einsatzes kommunikationstechnischer Vernetzung urbaner Systeme in der Lage, ihre Infrastruktur effizient und ressourcenschonend zu betreiben. Solche Cities können dabei durchaus mehr oder weniger smart sein – in Abhängigkeit von der Durchdringung digitaler Technologien. Unabhängig vom konkreten, individuellen Digitalisierungsgrad tragen Smart Cities und Smart Regions auch bereits in frühen, digitalen Reifegraden spürbar zur Klimaschonung bei.

Digitalisierung hilft beim Klimaschutz

Charakteristisch für menschliche Ballungsräume und industrielle Prozesse ist – wie erwähnt – der Verbrauch sehr großer Energiemengen. Bei der Herstellung von Produkten, der Heizung oder Kühlung von Gebäuden, im Verkehrssektor und beim Betrieb insbesondere auch städtischer Infrastrukturen werden täglich beträchtliche Mengen Treibhausgase in die Atmosphäre abgegeben.

Genau hier hilft die Digitalisierung heute bereits auf zweierlei Weise: Zum einen werden mithilfe der Digitalisierung Prozesse spürbar verbessert. Sie laufen in gewisser Weise reibungsloser und damit vielfach auch schneller ab. Dank digitaler Technologien werden überflüssige Aktivitäten entdeckt und ersatzlos gestrichen. Fehler werden in den Abläufen vermieden oder zumindest reduziert. Zum anderen trägt die Digitalisierung dazu bei, dass beispielsweise Produkte ressourcenschonender produziert werden. Man denke nur an den Ersatz vieler Milliarden Tastaturen für Smartphones durch wesentlich kompaktere Displays mit deutlich weniger mechanischen Bauteilen und kürzeren Edelmetallleiterbahnen.

Digitalisierung ist vermutlich eines der wichtigsten Instrumente zur spürbaren Reduzierung klimaschädlicher Emissionen und damit ein probates Mittel für mehr Klimaschutz! Beispielsweise reduziert sich der CO2-Fußabdruck des innerstädtischen Verkehrssektors, wenn vorausschauend in die Fahrzeugströme mittels Datenmodellen in Echtzeit eingegriffen wird. Dies geschieht bereits heute in zahlreichen Kommunen dadurch, dass Staus durch Information der Verkehrsteilnehmer über bevorstehende Stockungen und Alternativen vermieden werden. In ähnlicher Weise lassen sich andere Aktivitäten digital dekarbonisieren. So kann eine smarte Optimierung von Prozessen dazu führen, dass bedarfsgerecht geheizt oder beleuchtet werden kann, sowohl im öffentlichen Raum, in den privaten Haushalten als auch in der Industrie oder dem Dienstleistungsgewerbe.

Digitale Dekarbonisierung als neues Lösungskonzept

Mit dem Konzept der Digitalen Dekarbonisierung werden die gängigen klimawirksamen Digitalisierungsansätze grundlegend erweitert (siehe Abbildung). Im Fachbuch Digitale Dekarbonisierung zeigt das Autorenquintett, dass das viel beschworene Bauchgefühl bei der Optimierung von Energieverbräuchen oftmals doch trügt. In ihrer langjährigen Praxis haben die Autoren immer wieder festgestellt, dass etablierte Optimierungsverfahren, auch wenn sie digital unterstützt sind, zu kurz greifen. Wesentliche Verbesserungspotenziale für mehr Klimaschutz in den Energiesystemen bleiben häufig ungenutzt.

Das Konzept der Digitalen Dekarbonisierung setzt insbesondere auf die datenanalytische Verbesserung des Zusammenspiels aller an einem Ort installierten Kraftwerke, Solaranlagen, Windräder, Elektrogeräten usw. – mit anderen Worten: des lokalen Energiesystems. Dabei wird die Wirklichkeit einer Smart City, Smart Region oder eines Industrieareals zunächst digital abgebildet. Es entsteht eine digitale Kopie der Realität, ein digitaler Zwilling oder Digital Twin. Mithilfe dieses Zwillings können anschließend alle denkbaren Kombinationen von Energieanlagen untereinander verglichen und bewertet werden. Anlagenauswahl und -dimensionierung, örtliche Gegebenheiten, Bevölkerungswanderungen, Auswirkungen des technischen Fortschritts, erwartete Kostenentwicklungen und viele weitere Parameter fließen in die Untersuchungen ein. Alle Parameter können beliebig verändert und erneut zueinander in Beziehung gesetzt werden. Am Ende resultiert aus dem digitalen Zwilling eine smarte City mit einem kostengünstigen Energiesystem, welches sehr wenig Treibhausgase emittiert.

Digitale Dekarbonisierung als Chance für Smart City und Smart Region

© Oliver D. Doleski

Digitale Dekarbonisierung in der Praxis

Digitale Dekarbonisierung ist keine Theorie und längst dem prototypischen Stadium entwachsen. Die Autoren dieses Beitrags möchten an dieser Stelle exemplarisch drei Projekte aus den Sektoren Smart City und Industrie ansprechen.
Im ersten Fall konnten wir durch die Digitale Dekarbonisierung im Bereich der Fernwärmeversorgung einer norddeutschen Stadt ein beträchtliches Einsparungspotenzial für Kohlendioxid ermitteln. Je nach gewähltem Szenario kann der Ausstoß von Klimagasen zwischen 25 und 75 Prozent bis zum Jahr 2030 gemindert werden. Dies geschieht durch die konsequente Umsetzung eines optimierten Anlagenparks.

Im zweiten Beispiel haben wir auf Basis konkreter innerstädtischer Cluster oder Standorte in einer Dekarbonisierungsstudie für eine europäische Großstadt einen optimalen Fahrplan für die zukünftige Entwicklung der Stadt zu einer low-carbon Smart City ermittelt. Hierbei werden vor allem Synergien zwischen den Sektoren Energie – sowohl elektrisch als auch thermisch – und Mobilität berücksichtigt.

Der dritte Anwendungsfall stammt aus dem industriellen Umfeld. Dank des digitalen Zwillings konnten wir für petrochemische Produktionsanlagen zeigen, welche Rolle diese im Zusammenspiel mit erneuerbaren Energien in einem stärker dekarbonisierten Umfeld spielen könnten. Weitere Beispiele sowie die genaue Funktionsweise des Systems werden im oben genannten Fachbuch beschrieben.

Zielbild post-carbon Smart City

Rufen wir uns den Umstand ins Gedächtnis, dass in menschlichen Siedlungsgebieten ein Großteil der weltweiten Treibhausgasemissionen entsteht, wird offenkundig, dass der Kampf gegen den globalen Klimawandel in Megacities, Metropolen und Städten gewonnen werden muss. Mit Digitaler Dekarbonisierung steht Städten und Regionen, neben gängigen Optimierungsansätzen, inzwischen ein neues Instrument zur Verfügung, mit dessen Hilfe die Ziele des Pariser Klimaabkommens eingehalten werden können. Insofern unterstützt Digitale Dekarbonisierung Kommunen aller Größenordnungen dabei, dem Zielbild einer post-carbon Smart City ein großes Stück näher zu kommen. Grund genug, dass sich der Bundesverband Smart City e. V. als Promoter innovativer Smart-City-Lösungen an der fachlichen Diskussion dieses Konzepts beteiligt.

Wenn Sie sich eingehender mit diesem Thema beschäftigen möchten, lesen Sie auch das in der am 29. März in der Vollauflage der Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A.Z.) erschienenen Interview mit unserem Mitglied Oliver D. Doleski als E-Paper in der F.A.Z. Digital:
“ZUKUNT MENSCH, GESELLSCHAFT & TECHNOLOGIE” – ein innovativer Ratgeber rund um gesellschaftliche Herausforderungen durch technologischen Wandel und den damit einhergehenden Chancen für den Menschen im Spannungsfeld Mensch, Gesellschaft & Technologie.
Das Interview können Sie hier nachlesen.

Einen vertiefenden Einblick in das Thema finden Sie auch in dem Spektrum-Artikel “Digitale Dekarbonisierung für dekarbonisierte Digitalisierung” der Springer Fachmedien Wiesbaden.

Alle Blog-Beiträge unter AKTUELLES sowie Foren-Beiträge und Kommentare geben die persönliche Meinung des/der jeweiligen Autors/Autorin wieder und nicht zwangsläufig die des Bundesverband Smart City e.V. und/oder dessen Vorstands und/oder aller seiner Mitglieder.

 

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Über Oliver D. Doleski

Oliver D. Doleski ist Principal bei der Siemens AG und branchenweit bekannter Herausgeber. Nach wirtschaftswissenschaftlichem Universitätsstudium in München und verschiedenen leitenden Funktionen im öffentlichen Dienst sowie in Beratungs- und Dienstleistungsunternehmen war er viele Jahre erfolgreich freiberuflich als branchenübergreifend aktiver Unternehmensberater tätig. Heute widmet er sich vor allem im Energiesektor und in der Prozessindustrie intensiv den Themen Digitale Transformation, Internet of Things (IoT) und Smart City. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in den Bereichen Geschäftsmodellentwicklung (Integriertes Geschäftsmodell iOcTen) und Digitale Dekarbonisierung von Energiesystemen. Mit der Wortschöpfung Utility 4.0 etablierte Oliver D. Doleski bereits 2016 einen prägnanten Begriff für den Übergang von der analogen zur digitalen Energiewirtschaft. Er gestaltet als Mitglied energiewirtschaftlicher Initiativen den Wandel der Energiewirtschaft aktiv mit. Seine in der Unternehmenspraxis und Forschung gewonnene Expertise lässt er als Herausgeber und Autor in zahlreiche branchenweit beachtete Publikationen und Fachbücher einfließen.