Die Mobilitätswende gelingt nur im Plural – und nur in der Vernetzung mit den Bedürfnissen der Menschen

Lesedauer ca. 4 Minuten

Blaues futuristisches Muster von Google Deepmind (Quelle: pexels-google-deepmind-17485709)

Die Mobilitätswende ist mehr als die Elektrifizierung des Individualverkehrs. Sie greift tief in unser Selbstverständnis ein, das sich im letzten Jahrhundert in Symbiose mit dem Freiheitsversprechen des Autos entwickelt hat. Nur wenn nachhaltige Mobilitätsangebote das Versprechen von Freiheit und Lebensqualität besser erfüllen können als der Pkw, werden sie erfolgreich sein. Was aber „besser“ ist, ist abhängig von den konkreten Lebens- und Arbeitssituationen der Menschen.

Eine Auswertung des Portals Check 24 für 2021 hat ergeben, dass die Fahrleistung eines Pkws in Deutschland pro Tag bei 36,9 Kilometern liegt. Wir nutzen unser Auto also ca. 30 Minuten am Tag. Das Auto steht m.a.W. jeden Tag 23,5 Stunden irgendwo auf einem Parkplatz, am Straßenrand oder in einer Garage und verbraucht wertvolle Ressourcen, die wir dringend für Grünflächen und unser Wasserregime benötigen, ganz abgesehen vom verarbeiteten Material! Für 30 Minuten Mobilität pro Tag sind wir bereit, sehr viel Geld auszugeben. Sie bestimmen seit Mitte des letzten Jahrhunderts unsere Volkswirtschaft in Deutschland, sie bestimmen unser Lebensgefühl und unser Vertrauen in unser Gesellschaftssystem. Die Transformation unseres Mobilitätsverhaltens dringt tief in unser Selbstverständnis als Menschen einer freien Gesellschaft ein.

Das Auto ist ein Familienmitglied

Der Streit um das Gebäudeenergiegesetz hat (natürlich politisch aufgeladen) deutlich gemacht, wie empfindlich wir reagieren, wenn der Staat plötzlich in unser Privatestes hineinregiert. Und da geht es nur um die vermeintliche Commodity Ölheizung oder Gastherme, zu der wir gemeinhin keine enge Beziehung hegen. Im Vergleich dazu ist das Auto für viele ein Familienmitglied. Es ist das Versprechen von Freiheit und Verlässlichkeit vor der Haustür, ein sicherer Rückzugsort, die Verbindung zum Arbeitsplatz und zur Freizeitveranstaltung. Das mögen überwiegend die BürgerInnen und Bürger so empfinden, die in kleinen Städten oder auf dem Land leben. Aber sie sind die Mehrheit! Dessen müssen wir uns bewusst sein, wenn wir die Mobilitätswende fordern. Eine frühmorgendliche Busfahrt in Begleitung schläfrig müffelnder Mitmenschen, gefolgt von einer E-Scooter-Fahrt im Regen im Vorkreis der Hölle des Stoßverkehrs ist ein Kick, den frau nicht alle Tage benötigt, erst recht nicht zweimal

Mobilitätswende – ein Versprechen für mehr Lebensqualität

Die Mobilitätswende kann nur gelingen, wenn das Freiheits- und Flexibilitätsversprechen des Autos von einem mindestens so wirksamen Versprechen abgelöst wird. Dieses Versprechen könnte so lauten: du kannst einen Großteil deiner Arbeit von zu Hause aus oder in einem fußläufig erreichbaren Satellitenbüro leisten und gewinnst jeden Tag wertvolle Lebenszeit. Wer jeden Tag bis zu zwanzig Kilometer bis zum Arbeitsplatz fahren muss, kann das auf einem E-Bike auf breiten, komfortablen und sicheren Fahrradwegen tun. (Das ist schneller als jedes andere Verkehrsmittel und auch bei Wind und Wetter zu jeder Jahreszeit akzeptabel, wie zehntausende Kopenhagener täglich beweisen.) Die großen Ballungsräume, in denen Pendler durchschnittlich mehr als 30km für einen Arbeitsweg zurücklegen (und das sind laut BBSR nur Berlin, Hamburg, Hannover, Frankfurt und München) müssen den ÖPNV um vernetzte Angebote inkl. autonomer Shuttle, Rufservices und Mikromobilitätsangebote wie Leihfahrräder und E-Tretroller ausbauen mit dem Versprechen, dass dieses Angebot schneller, komfortabler und gesünder ist als jeden Tag eine Stunde im Stau zu stehen.

Auch das Auto wird endlich wieder fahren können

Im letzteren Fall stehen übrigens auch die Unternehmen mit in der Verantwortung, ihren Mitarbeitenden schnelle, komfortable, verlässliche und kostengünstige Transportmöglichkeiten zu bieten, die gleichzeitig den CO2-Fußabdruck der betrieblichen Mobilität senken. Und der (relativ) kleine Rest fährt dann weiter Auto: auf Straßen, die gleich- oder sogar vorrangig von Radfahrern genutzt werden, in Städten, die Erreichbarkeit für den Einzelhandel nicht ausschließlich (und vermeintlich ideologiefrei) mit „Parken vor der Ladentür“ gleichsetzen. Das sind aber auch Pflegende, Handwerker:innen, Zubringer:innen, Menschen mit Einschränkungen, und Menschen in der Freizeit, die dann mit ihrem Auto echte Mobilität erleben können, nicht nur ein inzwischen hohl gewordenes Mobilitätsversprechen. (Dass das Versprechen verlässlicher Mobilität auch vom öffentlichen Verkehr eingelöst werden muss, ist so selbstverständlich, dass ich es bei dieser Bemerkung in Klammern belassen möchte.)

Die Mobilitätswende ist ein lokales Projekt

Es gibt also „die Mobilitätswende“ nicht, die für alle Menschen in allen Räumen gleichermaßen gültig und werthaltig wäre. Wir müssen lernen, Mobilität zu segmentieren und bedarfsgerecht zu organisieren. Das hilft auch der Entwicklung belastbarer Geschäftsmodelle. Darum ist die Mobilitätswende zu einem wichtigen Teil ein Smart City oder ein Smart Regions Projekt. Die einzelnen Lösungen müssen als Baukastenteile, die immer zueinander passen und interoperabel sind, angeboten werden. Denn Mobilität ändert sich und muss sich den Bedürfnissen der Menschen und der Wirtschaft in angemessener Zeit anpassen können. Mit modernen Verkehrserfassungs- und steuerungstools, die heute bereits existieren, werden wir diese Änderungen künftig in fast Echtzeit automatisiert registrieren und maßgeschneidert darauf reagieren können. Die optimale Mobilität wird eine sich lernend optimierende Mobilität in einem bestimmten Raum sein.

Connected Mobility – vernetzt mit den Menschen und Stadträumen

Ich verstehe unter der Forderung nach „connected mobility“ deshalb nicht nur vernetzte Verkehrsangebote, sondern genauso die Mobilität, die automatisiert mit den dynamischen Bedürfnissen der Menschen vernetzt ist. Mobilitätsstationen sind Vernetzungsknoten von Menschen, Räumen und Fahrzeugen. Diese Notwendigkeit zur kleinteiligen Entwicklung vernetzter Mobilität ist aber Chance und Fluch zugleich, denn was im kleinen Projekt funktioniert, muss deshalb nicht auch in einer anderen Umgebung im größeren Maßstab erfolgreich sein. Auch das mag ein Grund sein, warum die Mobilitätswende sich so schwertut. Aber der Druck auf die Städte, Parkflächen für ihre Hitze- und Wassermanagement zu Grünflächen umzuwandeln, die Notwendigkeit, den Flächenfraß auch auf dem Land zugunsten von Wasserregime, CO2-Speicherung und Artenvielfalt zu stoppen wird dazu führen, dass alternative Mobilität auch in die Köpfe der Straßenplaner:innen dringt, denn hier scheint zurzeit noch tiefes 20. Jahrhundert zu herrschen.

Alle Blog-Beiträge unter AKTUELLES sowie Foren-Beiträge und Kommentare geben die persönliche Meinung des/der jeweiligen Autors/Autor:in wieder und nicht zwangsläufig die des Bundesverband Smart City e.V. und/oder dessen Vorstands und/oder aller seiner Mitglieder.

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Über Stefan Slembrouck

Stefan Slembrouck ist Philosoph, Betriebswirt und Unternehmer und arbeitet seit 2009 im Bereich Digitalisierung der Energieversorgung und kritischer Infrastrukturen, in den letzten Jahren zunehmend mit der Fragestellung, wie das vorhandene Stromnetz den Aufbau von Ladeinfrastruktur und die Erlangung von Klimaneutralität mit Hilfe von künstlicher Intelligenz besser unterstützen kann. Parallel dazu entwickelt er das Thema Ethik der Smart City: wie kann die kommunale Selbstbestimmung und damit unser demokratisches Staatswesen mit Hilfe der Digitalisierung gestärkt werden? Das dritte Schwerpunktthema von Stefan Slembrouck ist die digitale Transformation von Regionen mit ihren besonderen Herausforderungen der Mobilität, der Gesundheitsvorsorge und der interkommunalen Kooperation. Er verfügt über ein weitreichendes internationales Smart City Netzwerk und arbeitet daran mit, dass der Reichtum unterschiedlicher Innovationskulturen in Europa in ein europäisches Kooperationsmodell zur nachhaltigen Digitalisierung für Klimaneutralität und gesellschaftlichen Zusammenhalt einfließt. *** Stefan Slembrouck is a philosopher, economist and entrepreneur and has been working in the field of digitization of energy supply and critical infrastructures since 2009. In recent years with the growing challenge as to how the existing power grid can better support the development of charging infrastructure and the achievement of climate neutrality with the help of artificial intelligence. At the same time, he is developing the topic of Smart City ethics: how can municipal sovereignty and thus our democratic state be strengthened with the help of digitization? Stefan Slembrouck's third main topic is the digital transformation of regions with their special challenges of mobility, health care and inter-municipal cooperation. He has an extensive international smart city network that he helps organize to ensure that the wealth of different innovation cultures in Europe flows into a European cooperation model for sustainable digitization for climate neutrality and social cohesion. Homepage ->