Der BVSC im F.A.Z. Interview zum Thema „Die Smart City und der Sinn des Lebens“
Lesedauer ca. 4 Minuten
Das folgende Interview mit unserem Mitglied Stefan Slembrouck erschien als E-Paper ab dem 22.9. im Rahmen der Dachkampagne “Digitalisierung jetzt!” zu “Smart City & Smart Living – Leben in der Stadt von morgen: vernetzt, smart, grün” in der F.A.Z. Digital und im F.A.Z. Kiosk:
Auch 15 Jahre nach dem Start sind Smart Cities dem Vorwurf ausgesetzt, bisher kaum mehr als Versuchslabore individueller digitaler Lösungen zur Optimierung städtischer Leistungen zu sein. In Anbetracht der globalen Herausforderungen wie Corona und Klimawandel legt der Bundesverband Smart City e. V. den Fokus der Smart City auf Zugehörigkeit und Teilhabe der Menschen an der Gemeinschaft und der Stadtentwicklung. Sie sind für Menschen unmittelbar sinnstiftend, schaffen Vertrauen und bewirken eine Belebung verwaister Innenstädte. Gleichzeitig stärken sie die Gesellschaft, um notwendige radikale Veränderungen zur Abwendung von Katastrophen verkraften zu können.
Herr Slembrouck, wie relevant ist die Smart City noch? Sind die fatalen Auswirkungen von COVID-19, z. B. das Sterben von Läden und Gastgewerbe, und die Verödung von Innenstädten nicht dringendere Aufgaben? Und insbesondere auch die Verhinderung des Klimawandels?
Durch COVID-19 haben wir erfahren, welche Zumutung eine Naturkatastrophe wie die aktuelle Pandemie für unser Selbstverständnis ist. Um den Klimawandel und damit einhergehende Katastrophen zu verhindern, müssen wir wahrscheinlich noch viel größere Einschnitte akzeptieren.
Wir müssen uns fragen, wie wir unsere Gesellschaft und uns selbst gegen Katastrophen widerstandsfähiger machen, und uns darin befähigen können, einschneidende Maßnahmen zu deren Verhinderung zu ertragen. Der Bundesverband Smart City sieht hierin eine Kernaufgabe der Smart City. In dreißig Jahren werden laut UN über zwei Drittel der Menschen in Städten leben. Deshalb muss die Widerstandsfähigkeit, die „Resilienz“, der Gesellschaft im urbanen Umfeld gestärkt werden. Die Relevanz von Smart-City-Projekten muss künftig danach beurteilt werden, ob diese das Immunsystem der Gesellschaft, deren Selbstheilungskräfte und Resilienz stärken. Eine verletzliche Gesellschaft, fragmentiert durch Partikularinteressen und polarisiert in Filterblasen, ständig darauf bedacht, Grenzen und Mauern gegen das Andere und scheinbar Bedrohliche zu errichten, wird an den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts scheitern und möglicherweise untergehen.
Wie kann dieser Trend zur Polarisierung denn umgekehrt werden?
Die Stadt Kopenhagen z. B. hat ihre „Strategie zum guten Leben in der Stadt“ wie folgt formuliert: „More urban life for all, more people to walk more, and more people to stay longer.“ Wir übersetzen dies sinngemäß: „den Menschen mehr Teilhabe am städtischen Leben ermöglichen; die Stadt fußläufig erleben können; gerne in der Stadt verweilen“. Menschen wollen sich in ihrer Stadt zu Hause, d. h. Zugehörig fühlen. Teilhabe am städtischen Leben geschieht bereits beim Sehen und Gesehen-Werden. Schon auf dieser Ebene entsteht Zugehörigkeit, eine wesentliche und sinnstiftende Komponente im menschlichen Leben. Aus der Zugehörigkeit entsteht ein Gefühl der Gemeinschaft, die Grundlage für sozialen Frieden und somit der gesellschaftlichen Widerstandsfähigkeit. Hier entwickelt sich die Verantwortung des Einzelnen für das Überleben der Gemeinschaft.
Aber entstehen im Zeitalter von Videokonferenzen und Social Media Teilhabe und Gemeinschaftsgefühl nicht viel eher im virtuellen Raum?
Anders als im virtuellen Raum begegnen Menschen im physischen Raum zwangsläufig immer wieder Menschen außerhalb der eigenen Filterblase. Filterblasen führen zu Abhängigkeit und Einsamkeit, dem Gegenteil von Gemeinschaft. „Zu Hause“ findet im Internet nicht statt. Smart City hat deshalb nach Auffassung des Bundesverbandes Smart City die Aufgabe, den urbanen Raum so zu gestalten, dass Menschen sich in ihm wohlfühlen, gerne darin verweilen und sich auf Begegnungen mit anderen einlassen. Deshalb definieren wir die Smart City als „Stadt nach menschlichem Maß“, genauer noch als „Stadt auf Augenhöhe“, denn was der Mensch in seinem natürlichen Sichtfeld wahrnimmt, ist für ihn sinnstiftend. Der berühmte und vielfach ausgezeichnete dänische Stadtentwickler Jan Gehl hat die räumlichen und baulichen Kriterien einer „Stadt auf Augenhöhe“ detailliert beschrieben. Wir wollen aber auch niedrigschwellige Mittel und Wege finden, Plätze und Straßen, die zu verwaisen drohen, wiederzubeleben. Das kann nur in partizipativen Prozessen gemeinsam mit den Menschen geschehen, die sich auf einem Platz, in einer Straße aufhalten, denn nur sie können bestimmen, was bei ihnen das Gefühl des „Zu-Hause-Seins“ auslöst.
“Eine fragmentierte Gesellschaft ist verletzlich und droht infolge der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts unterzugehen.”
Sind aber partizipative Prozesse, wie wir sie kennen, nicht nur Showveranstaltungen mit Alibifunktion?
Eine Smart City wird nicht funktionieren ohne funktionierende partizipative Prozesse. Wenn ein Platz ein gutes Gefühl vermitteln soll, benötigen wir Teilhabe und Engagement bereits auf nicht sprachlicher und analoger Ebene. Wir müssen auch jene Menschen einbinden, die nicht online sind oder aufgrund sprachlicher Hemmnisse und anderer Barrieren bisher nicht erreicht werden.
Die digitalen Hilfsmittel einer Smart City, wie z. B. die Echtzeitsimulation eines neu zu gestaltenden urbanen Raumes, bieten völlig neue Möglichkeiten der Partizipation.Hier kann eine neue Erzählung ihren Anfang nehmen, die dann Schritt für Schritt verfestigt wird, z. B. durch Spielmöglichkeiten, Veranstaltungen, Stadtmobiliar, bauliche Maßnahmen, neue Gewerbetreibende und Gastronomen, die sich dort ansiedeln, wo Menschen sich eingeladen fühlen, zu verweilen. Mit diesem neuen Zugehörigkeitsgefühl wirkt die Smart City sinnstiftend.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Slembrouck.
Wenn Sie sich eingehender mit diesem Thema beschäftigen möchten, lesen Sie auch unseren weiterführenden Blog-Beitrag zu dem Thema sowie den darin verlinkten 14-seitigen Fachartikel “Die Smart City und der Sinn des Lebens” von Wolfgang Bernecker und Stefan Slembrouck, in welchem am Beispiel intelligenter Straßenbeleuchtung (Smart Streetlighting) erläutert wird, wie es gelingen kann, die Smart City für die Menschen sinnstiftend zu gestalten, wenn Bürgerbeteiligung – anders als bisher – als smarte Partizipation zum kontinuierlichen Prozess der gesellschaftlichen Teilhabe erweitert wird.
Alle Blog-Beiträge unter AKTUELLES sowie Foren-Beiträge und Kommentare geben die persönliche Meinung des/der jeweiligen Autors/Autorin wieder und nicht zwangsläufig die des Bundesverband Smart City e.V. und/oder dessen Vorstands und/oder aller seiner Mitglieder.
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